Warum ich die vielen Glücksbotschaften langsam merkwürdig finde
Es ist Samstagabend und ich stehe vor einem Regal mit Schreibwaren. Immer, wenn ich vor einem Regal mit Schreibwaren stehe, gucke ich, ob ich ein schönes oder praktisches Notizbuch finde, DIN A6, blanko, am besten mit Stiftschlaufe und Lesebändchen. Ich habe da einen sehr präzisen Geschmack entwickelt. (Gerade benutze ich eins mit zwei Lesebändchen – das ist mal wirklich praktisch.) Der Preis spielt keine Rolle. Naja, kaum eine.
Die Notizbücher in diesem Regal scheinen allerdings weniger zum Aufnehmen von eigenen Einfällen gedacht zu sein als zum Verbreiten von Glücksbotschaften. „Happy words“, steht auf einem, auf einem anderen in romantischer Schreibschrift: „In jeder Zeile findest du dein Glück“. „Pflücke den Tag“ finde ich in mehreren Variationen. Auf einem DIN A5-Block mit Blumenmuster steht ein bloßes „Happiness“.
So viel konzentriertes Glück hatte ich bis dahin zuletzt auf einer Postkarte gesehen, die dem Empfänger gerammelt volle 45(!) Botschaften an den Glückssucher um die Ohren haute – alles Imperative: „Erschaffe!“, „Akzeptiere!“, „Behalte deine Kindheit!“, „Öffne deinen Geist!“, und so weiter. „Es ist dein Leben“ stand darüber. Alles zusammen genommen ist es ein Programm für zehn Leben, zu viel für mich und ganz sicher zu viel für die 60, 70 Quadratzentimeter Kartenfläche.
Glück ist Thema Nr. 1
Zurück in der Fußgängerzone dann noch mehr Glücksversprechen und Ratgebereien, die das Leben noch besser machen wollen: auf Zeitschriftentiteln, auf T-Shirts, auf Tassen. Die Aufforderungen, meinem alltäglichen Dasein eine neue, höhere Qualität zu geben, verfolgen mich überall. Ich linse verstohlen nach oben, ob nicht über mir eine Drohne mit einem Spruchband fliegt: „Glück, Glück, Glüüüüück!“
Was ist das nur mit diesem Glück? Irgendwie hat es das Wort offenbar geschafft, Thema Nr. 1 zu werden und das öffentliche Leben komplett in Beschlag zu nehmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass über nichts so eifrig und ausdauernd geschrieben und nachgedacht wird wie über diese Idee: Wie mache ich mir ein besseres Leben – mit Erfolg, Annehmlichkeiten, Liebe, … „Glück“ eben? (Wobei bei einzelnen Schlagworten auf Notizkladden oder Postkarten ja noch nicht von „nachdenken“ die Rede sein kann.)
Warum ist Glück heute so wichtig? Die Frage danach, wie ich über das schlichte Daseinfristen in stickigen Büros hinausgehen und ein besseres Leben führen kann, ist ja keine schlechte Frage. Im Gegenteil: Ich finde, sie ist eine der wichtigsten Fragen, die man sich überhaupt stellen kann. Wenn heute jeder und jede dieser Frage mehr Aufmerksamkeit schenkt, ist das eine gute Entwicklung. Eine gute Antwort darauf zu finden, ist natürlich nicht leicht. Deshalb wundert es mich gar nicht, wenn die Leute Antworten suchen, wo sie sie nur kriegen können.
Glück ist der neue Sex
Was sie als Entgegnung finden, ist eben das „Pflücke den Tag!“, „Lächle!“ oder „Kauf meine DVD mit inspirierenden Botschaften!“ Hm. Was mir das ganze Pflücken, Lächeln und Kaufen hilft, um langfristig ein gutes Leben zu führen, ist mir nicht ganz klar – außer, dass es mir wahrscheinlich einen Moment lang ein gutes Gefühl gibt.
Vor allem aber habe ich den Eindruck, dass wir mit Glücksbotschaften geradezu zugemüllt werden. Sie sind wie Werbung mit Sex: Die ist auch überall, macht uns scharf drauf, aber Geschlechtsakte werden durch sie nicht häufiger – geschweige denn besser.
Ein gutes Leben können wir natürlich alle gebrauchen – genau wie Sex. Das Problem: Ständig und überall prasselt die Aufforderung auf uns ein: Du sollst Glück haben wollen! Das persönliche Glück wird zum permanenten Imperativ. Aber wie wir daran gehen sollen, dass es damit klappt, das ist gar nicht klar. Zu verschieden sind die Rezepte und Methoden, zu viele von ihnen kriegen wir angeboten. Wer soll da noch durchsteigen?
Willkommen im Glücksstress …
Was passiert, wenn wir etwas so dringend wollen sollen, wir aber keine Hilfe dabei bekommen, es in unserem Alltag umzusetzen? Dasselbe, das wir schon von der Arbeit, aus Beziehungen, der Familie, usw. kennen: Wir bekommen Stress. Unsere mit Glückssignalen zugemüllte Umgebung macht uns Glücksstress. Eigentlich wollten wir doch ein gutes Leben leben. Und jetzt sitzen wir richtig dick drin. Die Anforderungen des Alltags sind um eine weitere, existenzfüllende erweitert worden: Zu allem Überfluss sollen wir jetzt auch noch glücklich und erfolgreich sein.
… und Goodbye, Glücksstress!
Glücksstress ist heute überall. Ihn zu bemerken ist schonmal ein erster Schritt. Kann man auch etwas dagegen tun? Jeder für sich erst einmal? Das denke ich schon. Ich habe den Glücksstress jetzt schon eine ganze Weile beobachtet und ich habe mir Wege überlegt, wie ich selbst herausfinde. Und was bei mir klappt, klappt auch bei euch. Hier in diesem Blog will ich euch davon erzählen, mit euch über Glücksstress reden und zusammen mit euch über Wege aus der Glücksfalle diskutieren.
Wenn euch wieder einmal Glückskommandos auf Notizkladden oder Stickern begegnen: Macht euch keinen Kopf! Ein gutes Leben kann jeder führen. Ohne Glücksstress geht es viel leichter.
Hast du schon einmal Glücksstress gehabt?
Was denkst du über Glücksbotschaften?
Der Autor
Peter Plöger ist seit über einem Jahrzehnt Berufe-Entdecker, Orientierer und Autor und staunt darüber, dass die Freude daran immer noch wächst.
In seinen Büchern und in seinen Projekten ( z. B. „Why we work“ - www.whywework.de) kümmert er sich darum, dass Menschen ihr Gutes Leben finden – unter anderem in dem Beruf, der wirklich der richtige für sie ist.
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Engler Raimund (Freitag, 10 Juni 2016 18:13)
Hallo Peter,
ich schüttle nur noch den Kopf über so viele Liebes- und Glückscoachings.
Das ist sicherlich zu bevorzugen, sinnvoller als sich dauerhaft mit all dem "Verschwörungskram" zu beschäftigen.
Ich hoffe, dass immer mehr Menschen entdecken, dass nur sie ihr Leben "coachen" können. Wer sich "Berater" nennt und andere beraten möchte ist auf dem besten Wege, sein eigener Führer zu werden. Andere brauchen wir nicht mehr.
Wenn ich Impulsen und meiner Intuition folge, kann ich nichts mehr falsch machen und dies ist auch alles, was zum Glücke notwendig ist.
Glück ist für mich einNebenprodukt, das entsteht, wenn ich mich in die Gegenwart begebe.
Viel Glück und Bewusstheit
Raimund
Peter Plöger (Samstag, 11 Juni 2016 19:09)
Lieber Raimund,
ich glaube auch, dass der Einfluss, den man als einzeler auf das Lebensglück (was ist das überhaupt?) hat, überschätzt wird. Ich halte die Art von Glück, die in vielen Ratgebern oder auf Online-Seiten stark gemacht wird, auch für weniger wichtig. Wichtig ist, dass jeder und jede nach ihren eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten ein gelingendes Leben führt. Da spielt langfristige und nachhaltige Zufriedenheit eine viel größere Rolle als das flüchtige Glück des Moments.
Was das Coachen angeht: Seitdem ich selbst begonnen habe mit dem professionellen Beraten (nach einer Ausbildung zum lösungsfokussierten Berater & Therapeuten) habe ich erfahren, dass ein sorgfältiges Coaching dem Klienten tatsächlich oft helfen kann. Leider sind aber inzwischen sehr viele Coaches unterwegs, die ihr Handwerk anders verstehen, schematisch an ihre Klienten herangehen oder mit einer unprofessionellen Haltung. Da muss man als Klient sehr umsichtig sein und sich den richtigen Berater aussuchen.
Viele Grüße
Peter